Realismus statt Größenwahn
Realismus statt Größenwahn
VON Karsten Böhm
Schätzen Sie einmal, wieviel zufällig zusammengekommene Personen es braucht, damit die Wahrscheinlichkeit, dass zwei von ihnen am selben Tag Geburtstag haben, bei über 50% liegt.23 Personen – 366 Personen – 1187 Personen? Verblüffend, aber wahr. Bei 23 Personen liegt die Wahrscheinlichkeit bei über 50%. Bei einer Gruppe von 366 zufällig zusammengekommenen Personen beträgt die Wahrscheinlichkeit eines gemeinsamen Geburtstagsdatums bei 100%. Um eine Wahrscheinlichkeit von 99% zu erreichen, sind nur 55 Personen notwendig. Der ungarische Mathematiker Gábor Székely beschreibt dieses Phänomen folgendermaßen: „Dieses paradoxe Phänomen ist einer der Hauptgründe, warum Wahrscheinlichkeitstheorie so breit gefächert in seiner Anwendung ist“ – und uns oft so ratlos zurücklässt.
Um die Ohren geflogen
Wir riefen einmal als Jahresziel aus, dass wir unseren Gottesdienstbesuch im Schnitt verdoppeln wollen. Wir legten dabei die einfache Rechnung zugrunde, dass jede:r Gottesdienstbesucher:inim Laufe des Jahres eine Person aus dem Freundes- und Bekanntenkreises mitbringen musste. Schon wäre der Besuch im Schnitt verdoppelt und wir hätten die 1000er-Marke erreicht. Dieses Verdoppelungs-Ziel und die 1000er- Zahl flog uns um die Ohren und noch Jahre später wurden wir dafür entweder belächelt, bemitleidet oder beschimpft. „Ja ja, ihr mit euren großen Träumen und unrealistischen Zahlen!“ Wir scheiterten nämlich kläglich und erreichten nicht einmal eine Erhöhung um 100 Besucher.
Wer nicht losläuft, kommt nicht voran. Doch wer voranschreitet, kann sich auch verirren. Macht aber nichts, denn aus dem Scheitern kann Neues erwachsen.
Das lag zum einen daran, dass die ausgerufene Zahl 1000 Gottesdienstbesucher im Schnitt so unerreichbar klang. Hinzu kam, dass wir die Umsetzung einfach den Gemeindegliedern übertrugen: Sie haben dafür zu sorgen, dass das Ziel erreicht wird, indem alle zusätzliche Menschen mitbringen. Wir als Gemeinde taten nichts dafür: die Gottesdienst-Qualität wurde nicht erhöht, es gab keine neuen Gottesdienste für neue Zielgruppe, außerdem hätte der Platz im Kirchraum auch gar nicht gereicht für 500 weitere Gäste.
Es wurde einfach ein Ziel ausgerufen, ohne genauer darüber nachzudenken, wie es tatsächlich erreicht werden kann. Und letztlich lag ein ganz einfacher Denkfehler zugrunde: Es müsste nicht jede:r Gottesdienstbesucher:in „einfach“ eine Person mitbringen, sondern die mitgebrachte Person müsste ab sofort auch regelmäßig kommen. Auch daran scheiterte es.
Seit diesem grandiosen Scheitern sind wir vorsichtig mit zu unrealistischen Zielen und machen immer den Faktencheck: Stimmen die Prämissen, was ist möglich und vor allem, wie können wir das Ziel erreichen?
Mit Gottes Wundern rechnen
Das bedeutet aber nicht, dass wir uns nur noch Ziele setzen, die wir mit unserem Tun und Machen erreichen können, sondern wir rechnen immer auch mit Gott und seinem Wirken. So heißt es in unserem Leitbild der Gemeinde: „Wunder erwarten: Wir wollen als Gemeinde mit Gottes Wundern rechnen, denn wir sind überzeugt, dass wir einem Gott dienen, der mit seiner Kirche noch lange nicht am Ende ist. Die besten Tage der Kirche liegen vor uns. Gott ist dabei, sein Haus wieder aufzubauen – eine Kirche, die gesellschaftlich relevant und Gesellschaft gestaltend Gottes Gnade in die Welt trägt. Dafür wollen wir leidenschaftlich beten und arbeiten.“
Ohne Gott können wir viel tun, aber nur wenig erreichen. Die Ziele, die wir uns immer wieder setzen, können wir nur schaffen, wenn Gott kleine und große Wunder tut und unser Beten, unser Planen, unser Tun und Machen, uns segnet. Daher rechnen wir bei allen Zielen immer auch mit dem Faktor Gott und bleiben gleichzeitig realistisch hoffnungsvoll – mit beiden Beinen auf dem Boden mit Blick in den Himmel.
AUTORIN · AUTOR
Karsten Böhm ist seit 2011 als Pfarrer in der Andreasgemeinde in Niederhöchstadt. Dort ist er u.a. für die strategische Entwicklung, die Gottesdienste, das Format GoSpecial sowie das Neubauprojekt zuständig. Er ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Er ist Autor des Buches „Mutig vorwärts stolpern Erfahrungen, Fehler und Erfolge für die Gemeindepraxis“, erschienen im Neukirchener Verlag.