Schrumpfende Mitte
Schrumpfende Mitte
VON Gunter Schmitt
Trends der aktuellen Milieuforschung und kirchliche Resonanzen oder: Warum die Kirche neu gehen muss.
Seit etwa 40 Jahren erforscht das Sinus-Institut Milieus in Deutschland, Österreich und der Schweiz, entwickelt Milieu-Modelle und bietet seine Erkenntnisse breit in der Gesellschaft an. Seit den Nullerjahren klinken sich auch die Kirchen immer wieder ins Thema ein. 2005 erschien die erste Sinus-Kirchenstudie. 2009 startete die missionarische Bildungsinitiative „Erwachsen Glauben“ und forcierte die Milieuperspektive in der evangelischen Kirche. Die soziologische Brille half bei der Ausgestaltung und Passung der Angebote, von der Raumwahl und Ästhetik bis zur Themenwahl und Sprache. Vielfältige Arbeitshilfen zum Thema erschienen. Heute ist es etwas stiller um die Frage nach milieusensibler Gemeindearbeit geworden. Dabei gibt es für Kirche und Gemeinde viele gute Gründe, die Milieuforschung als Sehhilfe zu nutzen:
- Die Sinus-Milieus sensibilisieren für die Unterschiedlichkeit von Menschen und für die Vielfalt der Lebensweisen.
- In der Milieuperspektive können wir uns selbst als Kirche besser wahrnehmen und unsere Milieuverengung erkennen.
- Wir sehen dann, dass wir mit unseren Angeboten nur wenige Milieus erreichen.
- Zudem sind es gerade diese Milieus, die seit vielen Jahren schrumpfen, während wir die wachsenden Milieus eher nicht erreichen.
Und es gibt aktuellen Anlass sich gerade jetzt mit Milieuforschung zu beschäftigen. 2021 modellierte das Sinus-Institut die Milieus neu, die aktuellen Daten sind 2023 erschienen und bilden unsere Gesellschaft neu und schärfer ab. Einige wenige der neuen Trends:
- Nachhaltigkeit und Resilienz sind die neuen gesellschaftlichen Leitwerte. Gleichzeitig gibt es aber auch eine sehr pragmatische Nachsichtigkeit für das eigene inkonsequente Verhalten. Beispiel: Der Verzicht auf Flugreisen aus Gründen des Klimaschutzes – bei gleichzeitiger Dauerpräsenz im Internet und damit Dauerbeschäftigung energiefressende Server.
- Es gibt eine neue Wertschätzung traditioneller Haltungen und eines einfachen Lebensstils. Die Tipps der Großelterngeneration sind wieder „in“: wie man Energie spart, Obst einweckt, Gemüse anpflanzt etc.
- Ein neues Verhalten gegenüber Institutionen prägt sich immer stärker aus: Im Engagement gibt es sowohl das Bedürfnis nach Beteiligung und Erleben von Selbstwirksamkeit als auch das Bedürfnis nach Ungebundenheit.
Der für die Kirche bedeutsamste Trend ist eigentlich der überraschungsärmste, weil er sich seit vielen Jahren abzeichnet: Das Zerbrechen der früheren „Bürgerlichen Mitte“, die lange die Kirche und ihre Angebote prägte und das Anwachsen einer neuen, jungen, dynamischen gesellschaftlichen Mitte, die bisher nur schwach erreicht wird. Seit vielen Jahren ist uns als Kirche klar: Wir haben einen Schwerpunkt bei Menschen, die bürgerlich, traditionsorientiert, konservativ sind. Es gibt zwar Gemeindeglieder in allen der 10 Milieus, aber nur etwa 3-4 Milieus erreichen wir mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Die „Bürgerliche Mitte“ schrumpft schon lange. Inzwischen sieht die Sinus-Akademie kein Milieu mehr, das sie als „Bürgerliche Mitte“ bezeichnen möchte. Es ist erodiert und diffundiert in alle Richtungen.
Der für die Kirche bedeutsamste Trend ist: Die ‚Bürgerliche Mitte‘schrumpft.
Das Adaptiv-Pragmatische Milieu wächst
Wer ehemals die „Bürgerliche Mitte“ bildete, nimmt heute nach Sinus sogar zum Teil eine Oppositionshaltung ein: „Ein Teil der ehemaligen ‚Bürgerliche Mitte‘ betrachtet eigene Vorstellungen als entwertet und sieht sich als Gegenüber zur Gesellschaft.“
Die neue gesellschaftliche Mitte bezeichnet Sinus als „Adaptiv-Pragmatisches Milieu“. Und diese Milieu wächst seit Jahren, 2023 ist es erstmals das stärkste.“ Kirchliche Milieuforscher wie Heinzpeter Hempelmann sehen es deshalb als vordringliche Aufgabe der Kirchen an, Kommunikationsmodelle für diese Menschen zu entwickeln. Zweierlei kommt den Kirchen dabei zu Hilfe. Das „Adaptiv-Pragmatische Milieu“ ist
- nach Hempelmanns Einschätzung so stark ansprechbar ist für die christliche Botschaft und für kirchliche Angebote wie kein anderes der ebenfalls wachsenden Milieus.
- stärker als andere Milieus ansprechbar auf unsere traditionellen kirchlichen „Komm-Strukturen“. Traditionell denken wir in landeskirchlichen Kirchengemeinden attraktional: In Form von (kirchlichem) Angebot und (gesellschaftlicher) Nachfrage, also im Muster von „Komm-Strukturen“. Die Literatur zur Kirchen- und Gemeindeentwicklung der letzten Jahre fordert uns zurecht auf, neben diesem Muster auch missionale „Geh-Strukturen“ auszubilden, weil die meisten Milieus schlicht nicht „kommen“.
Ich skizziere das „Adaptiv-Pragmatische Milieu“ nur kurz:
- Zu ihm gehören viele, oft jüngere Familien und die Familie hat eine hohe Priorität.
- Care-Arbeit spielt eine Rolle, das Kümmern um Kinder und/oder die alten Eltern.
- Frau und Mann sind beide erwerbstätig, empfinden sich in der „rush hour of life“, achten auf Work-Life-Balance, Ausgleich, Sport und Freizeit.
- Sie pflegen ein soziales Netz, empfinden sich – auch deshalb – als krisenresilient.
- Sie engagieren sich pragmatisch, wenn sie einen persönlichen Benefit haben (Gemeinschaftsgefühl, Selbstwirksamkeitserleben).
- Sie sind in sozialen Medien unterwegs, digital affin ohne dass dieses Thema wichtig wäre.
- Sie haben ein Bedürfnis nach (finanzieller) Sicherheit, nach Schutz und Verbundenheit.
- Sie pflegen pragmatisch ihre Selbstverwirklichung und undogmatisch ihre Werthaltungen.
Kirche ist herausgefordert missionale ‚Geh-Strukturen‘ auszubilden, weil die meisten Milieus schlicht nicht kommen.
Wie sieht dieses Milieu die Kirche?
- Die Kirche wird nicht grundsätzlich kritisiert, sie kommt nicht oder kaum vor und ist deshalb nicht relevant.
- Sie wird als schwerfällige Institution empfunden, deren Gottesdienste und die Erscheinungsweise nicht zum eigenen Lebensgefühl passen.
- Andererseits gibt es noch Erwartungen an die Kirche: als Dienstleisterin bei Kasualien, die dann aber Rücksicht auf die eigenen individuellen Wünsche (als Kirchensteuerzahler!) nehmen soll.
Ein neues Gehen ist gefragt
Wie können wir als Kirche dieses Milieu ansprechen? Heinzpeter Hempelmann sieht eine Brücke in der „undogmatischen Offenheit für alles, was bei der Bewältigung des komplexen, anstrengenden Lebens hilft, an das man so hohe Erwartungen hat (Kinder, Karriere, Partnerschaft, Genuss).“ Ich möchte im Folgenden drei Gelingensbeispiele darstellen:
- Die EKD-Taufinitiative 2023 trifft genau dieses Bedürfnis und geht über diese Brücke: Tauffeste im örtlichen Freibad oder am See mit starker Familienorientierung, mit Mitmachaktionen, Spiel- und Bastelangeboten, Speisen und Getränken. Wir haben im Sommer 2023 auch in unserer Landeskirche ein Festival der Kreativität erlebt.
- Gottesdienste auf der Wiese, wer kommt sitzt auf Decken oder Stühlen. Kinder können spielen, wer besser zuhören möchte, geht weiter nach vorne. Anschließend gibt es ein Picknick, vielleicht wird gegrillt. Dadurch sind Familien entlastet von der Essenszubereitung, ein für sie wichtiger Faktor.
- Neue Kasualien wie Gottesdienste zum Valentinstag, mit Sekt zur Begrüßung, Segnung der Paare, schönen Texten und ansatzweise romantischem Ambiente.
Essen und Trinken, Gemeinschaft und Erleben sind bei allen drei Beispielen wichtig. Für diese und andere Initiativen gibt es in der Pfalz viele lebendige Beispiele. Verschiedene Gemeinden sind seit Jahren in dieser Richtung unterwegs und können die neue Sinus-Studie als Rückenwind empfinden.
Manches mögen wir als kirchliche Insider schmerzlich empfinden, etwa, wenn nach der Trauung Reis gestreut wird, wenn zur Beerdigung Schlager-Schnulzen gewünscht werden oder wenn während der Taufe am See geraucht wird. Ich empfinde, wir sind gerade dabei, eigene theologische Ekel-Schranken zu überwinden.
Kirche muss Ekelschranken zu überwinden
Sicherlich haben nicht alle Gemeinden die Aufgabe, das „Adaptiv-Pragmatische Milieu“ zu erreichen. Je nach Profil der Gemeinde fokussiert sie andere Milieus. Der „Aufbruch in die Lebenswelten“ (Heinzpeter Hempelmann) kann auch ganz anders aussehen. Allerdings sollte er stattfinden. Die Erkenntnisse aus den Sinus-Studien sind relevant für eine Kirche, die eine milieuübergreifende Botschaft und eine Berufung für die ganze Gesellschaft hat und es sich nicht leisten kann, nur eine schrumpfende Minderheit zu pflegen. Jedenfalls ist keine Option, einfach zu sagen: „Diese Leute kommen nicht zu uns. Und die, die kommen, wollen das bisherige Programm, das Vertraute, Traditionelle.“
Denn erstens kann es nicht unser Auftrag sein, uns auf wenige, schrumpfende Milieus zurückzuziehen und mit ihnen immer weiter zu schrumpfen. Wir sind auch zu denen gesandt, die bisher nicht kommen, aber auch ein Recht darauf haben, in ihrer Lebenswelt mit dem Evangelium in Kontakt zu kommen. Und zweitens schätzen die Hochverbundenen nach aller Erfahrung – und dazu gibt es mittlerweile einige Studien – auch die neuen Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens – wenn sie diese denn einmal lebendig kennengelernt haben.
Foto: Knut Burmeister
AUTORIN · AUTOR
Gunter Schmitt ist Pfarrer und Systemischer Coach (EASC) beim Missionarisch-Ökumenischen Dienst der pfälzischen Landeskirche und ist dort u.a. zuständig für Gemeindeentwicklung. Außerdem ist er ehrenamtlicher Mitarbeiter in einem Erprobungsraum seiner Landeskirche.
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