Evangelisation ist eine lange Wanderung

Evangelisation ist eine lange Wanderung

VON Dr. Michael Herbst

Von Veröffentlicht am: 2. Juni 2025Kategorien: Alle, Wildnis1617 Wörter8,1 min LesezeitAufrufe: 25Schlagwörter: , , , ,

Viele Jahre haben Prof. Dr. Michael Herbst und sein Team zum Thema Evangelisation geforscht. Im April 2024 erschien das Buch „Evangelisation – Theologische Grundlagen, Zugänge und Perspektiven, Mission und Kontext“ (Evangelische Verlagsanstalt Leipzig). BASECAMP präsentiert Auszüge der praktisch-theologische Pointen aus der Buchvorstellung.

Es war wahrhaftig eine lange Wanderung. Und wie es manchmal so kommt, haben wir die Länge des Weges anfangs unterschätzt. Hätte man uns damals gesagt, wie lange es dauern würde, hätten wir vielleicht gar nicht erst die Schuhe geschnürt und uns auf den Weg gemacht. Ein paar Probleme waren uns von Anfang an bewusst: Das Thema „Evangelisation“ ist nicht dazu angetan, den eigenen Ruhm in der wissenschaftlichen Community zu mehren. Für den deutschsprachigen Bereich mussten wir feststellen: Eine seriöse Beschäftigung mit dem Thema findet seit Jahrzehnten nicht mehr statt. Wird überhaupt über Evangelisation gesprochen, dann im Sinne alter Stereotype und meist in einem etwas abfälligen Tonfall. Fast könnte man unsere

Frohbotschaften statt evangelisieren

Wanderung als eine Erstdurchquerung einer unbeliebten theologischen Landschaft bezeichnen. Das Thema „Evangelisation“ bietet auch keine Erfolgsgeschichte. Man kann beim besten Willen nicht behaupten, dass durch evangelistische Unternehmungen in unserem Land Menschen in großer Zahl zu einer religiösen Neuorientierung fänden. Hier und da werden Einzelne tatsächlich angesprochen und bewegt; mancher erlebt eine Belebung seines Glaubens, aber große Effekte kann man nicht wahrnehmen.

Ich sage es einmal: Den Ton in dieser Hinsicht hat David Reißmann gesetzt. Er hat beharrlich versucht uns zu überzeugen, dass wir das Wort Evangelisation durch das angemessenere „frohbotschaften“ ersetzen sollten. „Frohbotschaften“ klingt jetzt vielleicht nicht unbedingt zugänglicher und zeitgemäßer, aber setzt eben einen bestimmten Ton: Eine frohe Botschaft gilt es weiterzusagen, zugänglich zu machen, den Menschen im Land vorzustellen und ans Herz zu legen. Frohbotschaften erinnert an den Urantrieb christlichen Zeugnisses: die Freude am österlichen Sieg Jesu Christi. der aller Welt zu Gute kommen soll und von dem man gar nicht schweigen kann. Evangelisation als „Frohbotschaften“ kommt dann aus der Mitte unseres Glaubens und gehört nicht an den schmuddeligen Rand kirchlicher Biotope, sondern ins Zentrum von theologischer Forschung und Lehre wie von kirchlicher Reflexion und Praxis…

Welche praktisch-theologischen Pointen kann ich Ihnen vorstellen – und damit vielleicht auch die Lust auf die Lektüre unseres „schmalen“ Bändchens wecken? Es sind zwei solcher Pointen, die sich aus unserer Forschung am Thema  besonders anbieten: Es ist erstens die zeitliche Dehnung dessen, was man praktisch unter Evangelisation fassen kann. Es ist zweitens die damit zusammenhängende Umkehrung der Dienstverhältnisse zwischen Christenmenschen und gemeindlichen Events.

1. Die zeitliche Dehnung

Zeitliche Dehnung bedeutet: Wenn wir heute von Evangelisation sprechen, haben wir es nicht mit kurzfristigen Aktionen zu tun, sondern mit langen Reisen, die wir miteinander und mit Menschen unternehmen, denen wir den christlichen Glauben vorstellen und vorschlagen. Dies gilt in mehrfacher Hinsicht:

Frühere Generationen konnten von einem gewissen Mindestbestand an Kenntnissen des christlichen Glaubens in der Bevölkerung ausgehen. Man konnte an Geschichten anknüpfen: Wenn vom ›verlorenen Sohn‹ die Rede war, war den Hörerinnen und Hörern klar, um welche Geschichte es hier gehen sollte. Und man konnte sogar von einem grundlegenden Einverständnis ausgehen: Diese Geschichten sind wichtig und richtig – auch wenn Hörerinnen und Hörer noch keine tiefe emotionale Bindung an das, was erzählt wurde, empfanden. Das kann man heute alles nicht mehr voraussetzen.

Kirche und Christentum haben gerade ein Image wie Abstiegskandidaten in der Bundesliga.

Es sind aber nicht nur mangelnde Kenntnisse. Es ist auch geschwundenes Vertrauen. Pfarrer waren einmal Kandidaten für die TOP 5 der vertrauenswürdigen Berufe. Lang ist’s her. Christliche Religion war nicht für viele eine sehr persönliche Angelegenheit, aber kaum jemand hätte bestritten, dass der christliche Glaube Wichtiges zu sagen hat. Wir haben dieses Zutrauen heute nicht mehr. Die Skepsis gegen die Religionsvertreter hat auf die Haltung zur Religion selbst abgefärbt. Vertrauen muss erst wieder aufgebaut werden.

Kirche und Christentum haben gerade ein Image wie Abstiegskandidaten in der Bundesliga. Man traut ihnen nicht viel zu. Ein Verein mag eine große Vergangenheit haben, aber es ist eben Vergangenheit. Jetzt verliert der Verein ›Christentum‹ immer mehr Anhänger. Hoffnungsträger für die Zukunft sehen anders aus.

Ehrlich hinschauen

Zugleich ist die Attraktivität, an einer christlichen Veranstaltung teilzunehmen, um sich grundlegend mit christlichen Inhalten zu befassen, kaum konkurrenzfähig mit anderen Angeboten des gesellschaftlichen Lebens.

Evangelisation heute hat also weit schwierigere Ausgangsbedingungen als in vergangenen Jahrzehnten, als sich die Zelte und Halle füllten, wenn Billy Graham in die Stadt kam. Wir sollten uns das eingestehen und die äußerst bescheidene Reichweite unserer Einladungen zu evangelistischen Events nicht beschönigen.

Kommunikation über das Evangelium hat heute andere Startbedingungen als in der Vergangenheit. Das gilt für das persönliche Gespräch wie für die gemeindliche Veranstaltung. Das Recht vom Glauben sprechen zu dürfen, müssen wir uns tatsächlich erst verdienen. Es muss Vertrauen aufgebaut werden. Es muss Neugier geweckt werden. Es müssen sich Beziehungen zu Menschen entwickeln. Sie müssen gewiss sein können, dass es uns um sie zu tun ist und nicht um unseren Missionserfolg. Wir müssen uns als authentisch und integer erwiesen haben, persönlich wie gemeindlich.

Und selbst wenn es dann zu einem Gespräch über den Glauben kommt, selbst wenn sich ein Mitmensch zu einem Gottesdienst, einem Glaubenskurs, einem Konzert, einer Pilgertour oder einer Freizeit hat einladen lassen, bleibt es ein langer Weg …

Der Weg ist lang: hin zur Kommunikation über den Glauben und dann auch im Vollzug der Kommunikation über den Glauben. Das hat nun auch mit der zweiten Pointe zu tun:

2. Die Umkehrung der Dienstverhältnisse

Wenn man über Evangelisation spricht, tauchen schnell diese gängigen Stereotype auf: große Hallen oder Zelte, ältere Herren auf einem Podium, die mit großem Eifer und sehr ausführlich für den Glauben werben, Musik, die man sich im heimischen Wohnzimmer nie anhören würde, vor allem aber dringliche Aufrufe, sich am besten umgehend für Jesus Christus zu entscheiden, andernfalls keine Garantie für zeitliches Glück und ewige Seligkeit gegeben werden könnte.

Evangelistische Events sehen heute anders aus: modisch, kulturell, musikalisch einigermaßen in der Gegenwart angekommen, mit Raum zum Dialog, mit eher zurückhaltenden Einladungen zum persönlichen Commitment und in einer Vielfalt von Formaten vom kleinen Emmaus-Glaubenskurs bis zum Mega-Chor-Event „Sieben Worte“. Also müsste doch alles gut sein und wir könnten unseren Gemeinden nur Mut machen: Macht mit, macht weiter!

Aber ich registriere eine zunehmende Müdigkeit. Wir wissen, wie gering auch die Reichweite unserer besten Bemühungen ist. Wir versuchen zu verstehen, warum doch am Ende des Tages hauptsächlich die Hochverbundenen und Tiefgläubigen kommen, und warum es ja auch für sie gut sei zu kommen und darum für uns gut weiter solche Events zu veranstalten. Aber es baut nicht unbedingt Motivation auf, wenn immer dieselben nicht kommen, an die wir doch dachten. Zunehmend aber sehen wir, dass Christenmenschen und ihre Gemeinden die Neigung verlieren hier engagiert mitzumachen. Brauchen wir diese Events denn noch? Ergibt das noch Sinn? Reichen nicht unsere normalen Treffen, Gottesdienste, Begegnungen? Zählen nicht viel mehr die persönlichen Kontakte und vertrauten Gespräche im ganz kleinen Kreis? Ist es nicht besser, wenn unsere Rede über den Glauben an die Erfahrung andocken kann, dass einem Menschen diakonische Hilfe zum Leben widerfuhr?

Nicht die Gemeinde assistiert den Evangelisten, die Evangelisten assistieren der Gemeinde.

Tatsache ist: Der Weg der Menschen zur Kommunikation über den Glauben ist sehr weit geworden, eine simple Einladung tut es nicht, persönliches Vertrauen muss erst wachsen. Isolierte Events müssen enttäuschen.

Und ja, es gibt viele andere Weisen zu frohbotschaften als mit kleineren oder größeren Events. Menschen werden berührt und bewegt durch eine tröstliche Bestattungspredigt, durch eine fröhliche Taufe, Menschen kommen miteinander ins Gespräch und erkunden den Glauben. Menschen werden überrascht durch einen lebendigen Gottesdienst.

Und trotzdem glaube ich, dass es das Besondere braucht.  Aber warum? Welche Argumente gibt es, wenn doch oft unser Einsatz nicht mit Reichweite und Resonanz belohnt wird?

Frohbotschaften braucht heute gefeiertes Event plus gelebtes Leben

Es braucht das Besondere, um öffentlich das Evangelium zugänglich zu machen. Es braucht das Event, um das Gespräch fortzusetzen, wenn der einzelne Christ an seine Grenzen kommt. Es braucht das Event, weil es gut ist, wenn einmal das Evangelium gut erzählt und schlau begründet wird.

Aber unsere Überzeugung ist, dass das Event eine assistierende Funktion hat und dass angesichts der weiten und langen Wege die Hauptaufgabe der Evangelisation bei der Gemeinde und ihren Gliedern liegt, bei ihrem alltäglichen Zeugnis, bei ihrem integren Leben, bei ihrer Art, mit Schwächen, Schuld, Scham und Versagen umzugehen, bei ihrer Fürsorge und ihrem Einsatz für das Gemeinwesen, bei ihrer fröhlichen und nachdenklichen Art, das Evangelium zu feiern, bei ihrer Sprachfähigkeit und Unverklemmtheit, wenn sie von ihrem Glauben erzählt. Das alles schafft, wenn es gut geht und Gottes Geist seine Arbeit macht, Neugier und Vertrauen und Offenheit. Und dann kann auch die große Stunde der Assistenzen kommen, der Events, der Konzerte, der Glaubenskurse, der speziellen Gottesdienste und Vorträge, der Pilgertouren und Diskussionsabende. Aber die Dienstverhältnisse haben sich geändert: Nicht die Gemeinde assistiert den Evangelisten, aber die Evangelisten assistieren der Gemeinde.

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