Buchtipp: „Die neue Mauer“ von von Ilko-Sascha Kowalczuk und Bodo Ramelow
Buchtipp: „Die neue Mauer“ von von Ilko-Sascha Kowalczuk und Bodo Ramelow
VON Rüdiger Jope
„Die neue Mauer“
Ilko-Sascha Kowalczuk und Bodo Ramelow
C.H.Beck

An drei Abenden habe ich diese Lektüre genossen. Man sitzt am Küchentisch oder auf dem Sofa mit dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk und Bodo Ramelow, Ministerpräsident a.D., Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Die beiden plaudern.
Über Versäumnisse und Fehler im Vereinigungsprozess, die Ost-West Befindlichkeit, den Antifaschismus und Antiamerikanismus, den Traum von einer gerechten Gesellschaft, den Frieden, … Der Umgangston miteinander ist freundlich, locker, wertschätzend, humorvoll.
Ein Schwerpunkt des Gesprächs ist die DDR. Diese wird nicht verklärt, sondern erklärt. Sie wird in diesem Buch nicht immer besser, immer schöner, immer humaner. Im Gegenteil: Die beiden zeigen detailliert auf, warum die Zivilgesellschaft im Osten so schwach ist. Alles war betrieblich geregelt. Es galt die Maxime: Nur nicht selbst Verantwortung übernehmen, der Staat macht das schon. Von der Wiege bis zur Bahre. „Die Gesellschaft war etwas Verstaatlichtes, und die Menschen hatten Erwartungen an diesen Staat“, so Kowalczuk. Genau an diese Erwartung knüpfte Helmut Kohl an: Lasst uns mal machen, wir bringen euch blühende Landschaften. Die kamen, waren aber mit vielen Abbrüchen, Schmerzen und Verwerfungen verbunden. Die Autoren benennen ungeschminkt die wirtschaftlichen Nachwendewahrheiten: Die Leute wollten für ihre hart erarbeitetes Westgeld keine Ostware mehr. Oder: Das Mietensystem der DDR war die zweite sozialistische Lohntüte. „Die gestützte Wohnung für 30 Mark der DDR war zwar nett für den Mieter, aber volkswirtschaftlich desaströs“, so Ramelow. Zudem hatte 1990 die DDR auch als verlängerte Werkbank der Bundesrepublik, als Billiglohnland für Ikea, Quelle und Neckermann ausgedient.
Die Autoren machen es sich nicht einfach. Sie tauchen ein in deutsch-deutsche Geschichte, erklären Hintergründe, bauen ihre persönlichen Geschichten ein. Sie geben Fehleinschätzungen zu. Sie würdigen politische Gegner und deren Leistungen. Was die Gesprächspartner eint, ist die Absage an „einfache Lösungen auf komplizierte Fragen“. Ein Zurück in ein Land, wo alles homogen war, Glückseligkeit herrschte, gleicht ihrer Überzeugung nach den vermeintlichen Fleischtöpfen Ägyptens. Kowalczuk unterstreicht: „Das Versprechen morgen soll es werden, wie es früher einmal war, vereint alle Extremisten.“
Auch in geschichtliche Wunden legen der Historiker und der Politiker ihre Finger. Sie kritisieren die fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit in Ostdeutschland. Die fehlende Aufarbeitung der Nazi- und Kommunismusgeschichte ist für sie ein Massenphänomen. Das vergiftetes Erbe der DDR lautet: Rechtsradikalität gibt es nur im Westen. „Der antifaschistische Staat hat vorn eine Propaganda ins Schaufenster gestellt, die hinten ziemlich zerbröselte“, so Ramelow. Ernüchternd schiebt er nach: „Die Ergebnisse der AfD in den Dörfern geben einen Hinweis darauf, wie viele Kilometer Sie fahren müssen, um den ersten Fremden zu treffen. Dort, wo es die wenigsten angeblichen Fremden gibt, holt die AfD die höchsten Wahlergebnisse.“ Spannend wird es auch beim Thema Ukraine. Warum ist der Osten so russlandfreundlich? Die Lehrmeinung aus der Schule trägt 35 Jahre später noch ihre Früchte: Die Sowjetunion ist gut, der große Freund, die USA der Imperialist, das Reich des Bösen …
Die „Neue Mauer“ ist ein erhellender und tiefschichtiger Lesestoff. Er entzaubert Mythen wie die der gelebten Gleichberechtigung („Der Anspruch war da, die Umsetzung mangelhaft.“). Er wertschätzt aber auch die Leistung der Ostdeutschen, führt z.B. vor Augen, dass Polikliniken oder die Praktische Arbeit als Unterrichtsfach auch für den Westen modellhaft sein könnten. Das Gespräch der Beiden ist ein lebendiges Stück gelebte Demokratie und Kultur, die hilft Ostdeutschland jenseits von kurzen, oberflächlichen Schlagzeilen zu verstehen. Und es führt den Leserinnen und Lesern vor Augen, „dass Demokraten trotz aller Differenzen fest zusammenstehen müssen, um die Demokratie zu stabilisieren und um autoritäre Verhältnisse zu verhindern.“
AUTORIN · AUTOR

Rüdiger Jope (Jg. 1969) ist gebürtiger Sachse, aufgewachsener Hesse, eingeheirateter Schwabe und heimatgewordener Westfale. Der gelernte Werkzeugmacher, studierte Theologe und Sozialpädagoge verantwortet als Chefredakteur im SCM Bundes-Verlag das Kirchenmagazin 3E und das Männermagazin MOVO „Was Männer bewegt. Was Männer bewegen“. Der Freizeitläufer lebt zusammen mit seiner Frau Ingrid und den zwei Kindern in Wetter/Ruhr.
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