Jeder darf (s)ein Päckchen tragen
Jeder darf (s)ein Päckchen tragen
VON Tanja Kasischke
„Der Tod kann mich kreuzweise“: Der „Kiosk der Kostbarkeiten“ des Berliner Erzbistums macht Trauernde wieder sprachfähig – und erlöst ein gesellschaftliches Tabu
Ein Automat, der Menschen tröstet. Klingt ethisch fragwürdig, zumal es die katholische Kirche ist, die den „Kiosk der Kostbarkeiten“ aufgestellt hat. Das Logo des Erzbistums ist an der Seitenfläche der Box auszumachen. Sparen die sich jetzt schon die Seelsorge nach dem Verlust eines geliebten Menschen? Im säkularen Berlin überrascht das nicht.
Hoffnung aus dem Snack-Schrank
Doch. Gerade im entkirchlichten Berlin hat der Automat in den zurückliegenden neun Monaten eine Erfolgsgeschichte geschrieben. Wer ein wenig Zeit mitbringt auf dem Friedhof St. Hedwig-St. Pius in Stadtteil Hohenschönhausen, auf dem täglich bis zu elf Verstorbene bestattet werden, beobachtet: Kaum eine Trauergesellschaft, aus der sich beim Verlassen des Friedhofs nicht mindestens eine Person löst, um den „Kiosk der Kostbarkeiten“ in Augenschein zu nehmen. Der mit Goldfolie überzogene Automat funktioniert wie ein typischer Snack-Schrank: Er stillt zwar keinen Hunger, aber erlöst ein gesellschaftliches Tabuthema, den Tod. Mehr als ein Drittel der Menschen kramt nach einer Münze, wirft sie in den Schlitz, tippt eine zweistellige Zahl ins Display und angelt einen kleinen Goldkarton aus der Warenklappe. Die einen öffnen ihn vor Ort, die anderen klemmen ihn unter den Arm und gehen ihrer Wege, um später ungestört im Inhalt zu stöbern. Jeder darf sein Päckchen tragen. 3000 Boxen sind seit der Einweihung im Januar weggegangen. „Man kann fast rund um die Uhr zuschauen, wie Trauernde mit einer Schachtel den Friedhof verlassen“, bestätigt die Bestatterin, die ihr Büro in Sichtweite des „Kiosks“ hat. „Schöne Sache“, findet sie, das Trauercafé mittwochs werde dadurch ebenfalls aufgewertet. „Es kommen mehr Leute.“
„Der ‚Kiosk‘ ist ein Platzhalter für menschliche Trostspendende.“
Carla Böhnstedt ist überwältigt. Die Referentin im Citypastoral des Erzbistums hat das Projekt initiiert, mit so viel Zuspruch aber nicht gerechnet. Ihre ursprüngliche Kalkulation von 500 Boxen hat sie längst angepasst und reichlich Exemplare nachbestellt. 100 Stück fasst der Automat. Nachschub wird in einer Kammer der Trauerhalle gelagert. Sozialarbeiter Niklas Zegelin füllt die Fächer jede Woche auf, manchmal mehrfach. Eine App zeigt ihm die Auslastung an. Fünf Motive, fünf Gesprächsanlässe haben Trauernde zur Auswahl. Der Inhalt der Kartons variiert und deckt so unterschiedliche Bedarfe, wie man Sprachlosigkeit nach dem Tod eines nahestehenden Menschen bewältigt. Trauer sei vielgestaltig, sagt Carla Böhnstedt. „Wenn die Oma oder der Partner nach einem erfüllten Leben einschläft, ist die Zäsur genauso schmerzhaft wie bei einem Baby, das still geboren wird, beziehungsweise wenn ein junger Mensch schwer erkrankt oder bei einem Verkehrsunfall stirbt. Wut, Angst, Verzweiflung, alle Gefühle brauchen ihren Raum.“ Der „Kiosk“ ist ein Platzhalter für menschliche Trostspendende, er lässt Trauernde indes selbstbestimmt den Zeitpunkt wählen, an dem sie sich äußern.
Hilfe zum Trauern und Weiterleben
Rede und Antwort standen der Pastoralreferentin im einjährigen Entstehungsprozess des Projekts Bestatter, Mitarbeitende im Hospizdienst sowie die Ehrenamtlichen des „Friedhofsplauschens“, dem Trauercafé der Malteser auf dem Hedwig-Pius-Friedhof. Sie spricht von „Trauerprofis, die sagen konnten, welche Gesprächsanlässe wirksam sind – und welche nicht“. So enthält die Box „Weggefährten“ einen Stoffbeutel mit dem Spruch „Du musst nicht alles alleine tragen“ und einen Schlüsselanhänger mit Schutzengel. In der Schachtel „Sternstunden“ liegen zwölf Briefumschläge, einer für jeden Monat des Trauerjahres; Post für die, die weiterleben. Carla Böhnstedts Favorit ist „Trostgold“, ein Set Postkarten, das den Umgang mit dem Verlust laut denkt; z. B.: „Der Tod kann mich kreuzweise“ und „Die Liebe bleibt“. Die beiden übrigen Boxen heißen „Bauchgefühle“ und „Lichtblicke“. Alle enthalten zusätzlich eine Kontaktinfo mit Seelsorgeangeboten der Kirche am Ort. Über die angegebene E-Mail erreichen das Citypastoral dankbare Nachrichten von Menschen, die schildern, wie sie ihre Box eingesetzt haben. So hatte ein Witwer das Einkaufen zeitlebens seiner Frau überlassen. Nach deren Tod fiel die Aufgabe an ihn. Er trage jetzt den Beutel aus der Weggefährten-Schachtel und fühle Verbundenheit, schilderte der Mann.
Der Automat ist keine Sonderanfertigung, sondern ein Zwilling der Grablichtautomaten, wie sie häufiger im Friedhofsbild bundesweit stehen, meistens im Eingangsbereich. Den Platz hat auch der Kiosk. Die von einer Grafikerin gestalteten Kartons haben einen Wert zwischen zehn und fünfzehn Euro, je nach Modell. Abgegeben werden sie für zwei Euro, ein symbolischer Preis, von dem die Funktionalität der Technik abhängt – keine Ausgabe ohne Einwurf. Eine Förderung des katholischen Bonifatiuswerks deckte die Anschaffungskosten in vierstelliger Höhe. Gewinn erwirtschaften darf das Berliner Erzbistum damit nicht. Alle Einnahmen aus dem „Kiosk der Kostbarkeiten“ gehen an die caritative Trauerarbeit der Malteser. Im Juni 2025 hat das Projekt den Innovationspreis des Vereins Andere Zeiten e.V. gewonnen.
Noch Fragen?
Der „Kiosk“ steht auf dem Friedhof St. Pius-St. Hedwig in Berlin-Alt-Hohenschönhausen, Konrad-Wolf-Str. 30-32. Die Tramlinie M5 hält wenige Meter vom Eingang. Das Friedhofscafé „Friedhofsplauschen“ ist als Begegnungsmöglichkeit jeden Mittwoch von 14 bis 17 Uhr geöffnet.
Weitere Fragen beantwortet Carla Böhnstedt im Citypastoral des Erzbistums per E-Mail.
AUTORIN · AUTOR

Dr. phil. Tanja Kasischke war Redakteurin des Reformationsblogs „Mensch, Martin!“. Seitdem berichtet sie über Themen der missionarischen Gemeindeentwicklung, der Öffentlichen Theologie und wie Kirche den Wechsel von der sprachlosen Parochie zum ansprechenden Netzwerk meistert. Sehr begeistert ist sie von der Wiederentdeckung des prophetischen Amts als Teil der apostolischen Dienstgemeinschaft. Sie lebt in Berlin.
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